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Irritationen im öffentlichen Raum. Stolpersteine in Italien

pubblicato in: Silvija Kavčič , Thomas Schaarschmidt, Anna Warda, Irmgard Zündorf (a cura di) Steine des Anstoßes. Die Stolpersteine zwischen Akzeptanz, Transformation und Adaption, Metropol – Verlag, Berlin, Mai 2021

Irritationen im öffentlichen Raum. Stolpersteine in Italien

 

Geschichten in der Geschichte

Am 8. Dezember 2019 starb Piero Terracina, der als Einziger aus seiner Familie die Hölle von Auschwitz überlebt hatte, ein unermüdlicher Zeitzeuge und wertvoller Gesprächspartner für die jüngeren Generationen. Kaum hatten sie von seinem Tod erfahren, legten die Schüler des Istituto Federico Caffè einen Blumenstrauß auf den sieben Stolpersteinen vor Terracinas Wohnung an der Piazza Rosolino Pilo im römischen Stadtteil Monteverde nieder. Diese hatte der Verein Arte in Memoria“[1] (Kunst zum Gedenken) am 28. Januar 2010 zum Auftakt des  Stolpersteine-Projekts in Italien angebracht. Sie erinnern an seine Angehörigen, die am 7. April 1944 während des Pessachmahls abtransportiert worden waren. Exakt einen Monat nach der Verlegung der Steine wurden sie von einer Bande von Neofaschisten aus dem Viertel mit schwarzer Farbe beschmiert. Die Reaktionen, auch vonseiten des den Neofaschisten nahestehenden Bürgermeisters Gianni Alemanno, ließen nicht auf sich warten. Die Steine wurden gereinigt, die Verantwortlichen jedoch nie zur Rechenschaft gezogen. Es war nur der erste von mehreren solcher Vorfälle. Am 12. Januar 2012, zwei Tage nach ihrer Verlegung, riss ein Hausbewohner die Steine zum Gedenken an die drei Schwestern Spizzichino vor dem durchgehend unter Polizeischutz stehenden Justizministerium in Rom heraus; er wurde in diesem Einzelfall identifiziert und zur Herausgabe der stark beschädigten Steine gezwungen. Die Angehörigen stifteten sie dem Fondazione Museo della Shoah[2] in Rom. In der Nacht vom 9. auf den 10. Dezember 2018 wurden sogar 20 der Familie Di Consiglio gewidmete Stolpersteine, die sechs Jahre zuvor vor ihrem Wohnhaus in Rom verlegt worden waren, herausgerissen und entwendet. Zahlenmäßig handelte es sich hier um die gravierendste Aktion gegen Gunter Demnigs Projekt und das Gedenken an die deportierten Familien. Auch diesmal wurden die Verantwortlichen, trotz Überwachungskameras und vieler Anwohnerinnen und Anwohner, die den Vorfall beobachten konnten, nie ermittelt.

 

Abb. 1: Gestohlene Stolpersteine in Rom (pietre d’inciampo rubate della famiglia Di Consiglio)

 

Diese Chronik der Zerstörung unterstreicht, zusammen mit der mangelnden Pflege der Stolpersteine, zweierlei: Erstens sorgen die Stolpersteine trotz ihrer geringen Sichtbarkeit für erheblichen Unmut. Zweitens sind sie ein Lackmustest dafür, wie mit der NS-Vergangenheit in einer Stadt und  einem Land umgegangen wird, das sich bislang nur in geringem Maße mit der eigenen Geschichte beschäftigt hat und daher auch nicht in der Lage ist, die Erinnerung daran zu bewahren. Die Geschichte der während der Shoah in Auschwitz und in den Ardeatinischen Höhlen ermordeten Familie von Giulia Spizzichino steht stellvertretend für die vieler anderer italienischer Jüdinnen und Juden, die während der auf den Waffenstillstand zwischen der faschistischen Regierung und den Alliierten vom 8. September 1943 folgenden deutschen Besetzung Italiens deportiert wurden.

Mein Beitrag setzt sich drei Ziele. Er will anhand von aufschlussreichen Fällen von Deportierten aus rassistischen, politischen und militärischen Gründen das politische Szenario in Italien nach dem 8. September 1943 umreißen. Ab diesem Zeitpunkt begannen mit der deutschen Besetzung Roms und Norditaliens die Deportationen und Ermordungen von Juden, Antifaschisten und Militärangehörigen, die sich weigerten, unter der Republik von Salò zu dienen. Er will Geschichte also anhand von Geschichten erzählen. Zweitens will er herausstellen, welch innovative Bedeutung die Stolpersteine für die seit Ende der 1980er-Jahre aufblühende Gedenkkultur in Italien hatten und immer noch haben. Und schließlich will er die Gründe herausarbeiten, die einerseits zu der bemerkenswerten Verbreitung des Projekts geführt haben, sodass binnen zehn Jahren in größeren wie auch kleineren Städten ungefähr 1000 Stolpersteine verlegt wurden. Andererseits sollen aber auch die Gründe benannt werden, die zu den Zerstörungen und Beschmutzungen der Steine führten. Diese spiegeln ein raueres politisches Klima ebenso wider wie einen erschreckenden Zulauf aufseiten der rassistischen und fremdenfeindlichen Rechten und ein Unvermögen der Linken, sich als politische Alternative ins Spiel zu bringen.

 

Die Razzia gegen die jüdische Bevölkerung Roms

Im Morgengrauen des 16. Oktober 1943 umstellte eine Sondereinheit der SS unter dem Kommando von Herbert Kappler, dem Kommandeur der Sicherheitspolizei (SiPo) und des Sicherheitsdienstes (SD) in Rom, das dortige Ghetto. 1022 Männer und Frauen, Alte und Kinder, die man aus dem Schlaf gerissen hatte, wurden deportiert. Nach der Razzia hielt man die Gefangenen in der Militärschule neben dem Gefängnis Regina Coeli fest, um sie später im Bahnhof Tiburtina in Güterzügen nach Auschwitz zu deportieren. Bei ihrer Ankunft am 23. Oktober 1943 wurden die meisten von ihnen in den Gaskammern ermordet – auf den Stolpersteinen ist häufig dieses Datum verzeichnet. Nur 16 der Deportierten kehrten zurück.

Der Razzia im jüdischen Ghetto war die Deportation von 2000 Carabinieri am 7. Oktober 1943 und ein groß angelegtes Betrugsmanöver vorausgegangen, bei dem Oberst Kappler 50 kg Gold von der jüdischen Gemeinde erpresst hatte. Falls dieses nicht binnen 36 Stunden bis zum 28. September 1943 abgeliefert wurde, sollten 200 Familienoberhäupter deportiert werden. Nachdem Carlo Lizzanis großartiger Film L’oro di Roma diese finstere Geschichte 1961 bekannt gemacht hatte, erinnert seit 2012 ein Stolperstein vor seiner ehemaligen Wohnung und Werkstatt an den Goldschmied Angelo Anticoli, der das Gold einsammelte und am Sitz der Gestapo in der Via Tasso abwog, bevor er im April 1944 deportiert und in Auschwitz ermordet wurde.

Diese Aktion diente Kappler auch dazu, Zeit zu gewinnen. Als er am 24. September 1943 aus Berlin den Befehl erhielt, alle Juden festzunehmen, wusste er, welche Rolle die Carabinieri-Truppen beim Sturz des Regimes und bei der deutschen Besetzung Neapels und Roms gespielt hatten und wie stark sie von monarchistischen und antideutschen Gefühlen beseelt waren. Am 6. Oktober erteilte Rodolfo Graziani, Minister für Nationale Verteidigung der RSI, dem Oberkommando der Truppe den Befehl zur Entwaffnung sämtlicher Carabinieri. Am nächsten Morgen wurden ihre Kasernen von deutschen Fallschirmjägern und Soldaten der italienischen Kolonialpolizei (Polizia dell’Africa Italiana) umstellt und 2000 Carabinieri, die als besonders deutsch-feindlich galten, in der Kaserne am Viale Giulio Cesare festgenommen und in Konzentrationslager nach Deutschland, Österreich und Polen transportiert. „Einige wurden ermordet, viele verhungerten oder starben an Krankheiten und Misshandlungen“,[3] heißt es auf dem Kopfstein, der 2010 zusammen mit zwölf weiteren Stolpersteinen zum Gedenken an einzelne Carabinieri vor der Kaserne verlegt wurde.[4]

In den deutschen Konzentrationslagern trafen die Carabinieri auf ehemalige italienische Soldaten, von denen rund 650 000 als sogenannte Militärinternierte festgehalten wurden. Nach der Absetzung Mussolinis vor die Entscheidung gestellt, sich für einen Verbleib im Lager oder für die Rückkehr in die Freiheit unter der Bedingung auszusprechen, in der deutschen Wehrmacht oder in den Streitkräften der RSI zu kämpfen, wählten weniger als zehn Prozent die Freiheit und entzogen der RSI somit jede Legitimation.[5] Den Italienischen Militärinternierten wurde der Status als Kriegsgefangene abgesprochen, und sie wurden zur Zwangsarbeit für die deutsche Kriegswirtschaft verpflichtet. 2018 und 2019 wurden in Copertino und in Monteroni di Lecce in Apulien neun Stolpersteine zum Gedenken an neun Militärinternierte verlegt, die am 9. September 1943 verhaftet und in Österreich und Deutschland ermordet worden waren.

Die Festnahme der römischen Juden fand nicht nur am 16. Oktober 1943 und auf dem Gebiet des Ghettos statt, wie gemeinhin angenommen und durch die Vielzahl der dort eingelassenen Steine nahegelegt wird, sondern erstreckte sich über das gesamte Stadtgebiet und einen langen Zeitraum.  Durchgeführt wurde sie von den deutschen Besatzern in enger Zusammenarbeit mit der Nationalrepublikanischen Garde der RSI, deren Gründung Mussolini am 17. September 1943 über den Reichssender München angekündigt hatte, was sechs Tage später auch geschah. Im programmatischen Manifest der „Carta di Verona“ vom November 1943 wurden die „der jüdischen Rasse Angehörigen zu Ausländern und, während des Krieges, zu Feinden“ erklärt und somit die Judenverfolgung legitimiert, die zu über 8500 Deportationen führen sollte. So kamen zu den Deportierten des 16. Oktober mehr als 1000 römische Juden hinzu, die fast immer infolge von Denunziationen durch Faschisten oder andere Italiener, die einfach 5000 Lire Kopfgeld einstreichen wollten, festgenommen wurden.

 

Von der privaten Erinnerung zum öffentlichen Gedenken

So gut wie alle Stolpersteine, die in Rom und anderen Regionen wie der Emilia Romagna für aus rassistischen Gründen Deportierte verlegt wurden, sind von Familienangehörigen, die selbst der Festnahme entgingen oder überlebt haben, in Auftrag gegeben worden. Tatsächlich sind sie die Hüter der Geschichten, an die es zu erinnern gilt, und sie spielen eine zentrale Rolle für den Übergang von einer über Jahre von ihnen privat bewahrten Erinnerung zu einem öffentlichen Gedenken. Im „Zergliedern und Aufteilen des sogenannten kollektiven Gedächtnisses“,[6] im Übersetzen der abstrakten und unermesslichen Zahl von Millionen Menschen in individuelle Schicksale werden die Unterdrückung und Verfolgung in der NS-Diktatur und der Kampf gegen das nazi-faschistische Joch mit dem Zeugnis seiner Protagonisten verbunden und dadurch klarer fass- und begreifbar. Demnig betont, ihm liege vor allem am Herzen, die Familien gerade an dem Ort, an dem sie zwangsweise getrennt wurden, wieder zusammenzubringen. Tatsächlich spiegelt er in der Anordnung der Stolpersteine auf dem Boden ihre Ahnentafel wider: Ehemänner neben ihren Frauen, darüber die Eltern und darunter die Kinder und Enkel. Nicht zufällig heißt Stein auf Hebräisch even, der Wortstamm ist derselbe wie bei den beiden Wörtern für Vater und Sohn, aba und ben. Die Installation ist eine regelrechte Zeremonie: Verwandte aus aller Welt, wohin das Exil sie trug, finden sich vor dem einstigen Wohnhaus der Familie ein und kommen oft zum ersten Mal wieder zusammen. Die städtischen Amtsträger nehmen teil, die Historischen Institute des Widerstands, die Vereinigungen der Partisanen und ehemaligen Deportierten, die Jüdische Gemeinde und die deutschen Behörden beteiligen sich in erkennbarer Weise. Die Schüler der am Lernprojekt beteiligten Schulen geben in Konzerten, Performances, Lesungen, Fotoausstellungen wieder, was sie im Lauf des Jahres zu „ihren“ Deportierten erforscht haben; jemand spricht das Kaddisch. So kamen dank der Stolpersteine, die 2014 am Viale Giulio Cesare in Rom für ihre Urgroßeltern gesetzt wurden, 35 Urenkel der in Auschwitz ermordeten Augusto Piperno und Virginia Baroccio zum ersten Mal zusammen. Sie trafen sich in Krakau, um von da aus den Weg der Urgroßeltern in umgekehrter Richtung vom Vernichtungslager bis zu ihrem Wohnhaus nachzuvollziehen.

Nicht immer ist es möglich, die Steine vor dem Wohnhaus anzubringen. Manchmal ist der Ort der Gefangennahme nicht derselbe wie der Wohnort, oder der Ort ist mit einem Wechsel des Ortsnamens  verschwunden, oder die Familienangehörigen erachten den letzten Arbeitsort für wichtiger als den einstigen Wohnort. Dies ist der Fall bei Mario und Marco Segre sowie Noemi Cingoli, für die auf Initiative einiger Archäologen und Kunsthistoriker 2017 drei Steine vor dem Schwedischen Institut für Klassische Studien in Rom verlegt wurden, wo sie dank des Einschreitens des Direktors Erik Sjöqvist, eines wahren „Gerechten“, Zuflucht gefunden hatten. Nachdem eine Polizeistreife der RSI sie erkannt hatte, wurden sie trotz der Fürsprache des Direktors beim Papst nach Auschwitz deportiert und am 23. Mai 1944 ermordet.

Der eingangs beschriebene Vandalismus, der sich im Dezember 2018 gegen 20 Stolpersteine in Rom richtete, war nicht der letzte Anschlag dieser Art. Nachdem im Rahmen der 2019 von der deutschen Botschaft gestarteten Initiative „Das Gedächtnis entstauben“ Hunderte von Schüler in Rom 278 Stolpersteine blank geputzt hatten, gab es Attentate mit schwarzer Farbe. Um den eingravierten Text auszulöschen, wurden Steine herausgerissen und gestohlen, gingen Beschimpfungen und Drohungen an die Adresse des Vereins Arte in Memoria, der das Projekt nach Italien gebracht hat. Sogar gefälschte Steine mit der Inschrift „Die Mörder kehren immer zum Ort des Verbrechens zurück“ tauchten auf. Solche Angriffe wurden immer prompt und einhellig vonseiten der staatlichen Institutionen, der Medien, von Intellektuellen, Politikern, den Bürgern des Landes und des Staatspräsidenten Sergio Mattarella, der sich mit der Delegation von Unterzeichnern eines Appells zur Unterstützung von Arte in Memoria treffen wollte, verurteilt. Vielsagend ist die Reaktion der Schüler, die angesichts des Diebstahls der Steine zum Schuldirektor liefen und riefen: „Herr Direktor, die haben unsere Steine gestohlen!“ Diese Reaktionen zeigen, wie lebendig das Projekt in Italien ist. Bis 2019 waren 930 Stolpersteine (gegenüber 500 im Jahr 2016), in zwölf Regionen und 92 großen und kleinen Städten verlegt.

 

Ein Denkmal in kontinuierlicher Entwicklung

In Absprache mit Gunter Demnig werden seit 2012 auf den römischen Stolpersteinen gleichwertig neben den Namen der Vernichtungslager auch die Ardeatinischen Höhlen in Rom genannt. Als Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf ein der deutschen Wehrmacht angegliedertes SS-Polizeiregiment, das am Tag zuvor in der Via Rasella 33 Tote in den Reihen der Deutschen gefordert hatte, waren am 24. März 1944 in den alten Puzzolangruben an der Via Ardeatina 335 Männer aller Altersstufen, sozialen Klassen, politischen Anschauungen und religiösen Überzeugungen niedergemetzelt worden. Sie waren am Sitz der Gestapo und im Gefängnis von Regina Coeli  eingesperrt gewesen oder in ihren Wohnungen und im Zuge von Razzien festgenommen worden. Die Deutschen versuchten, das Massaker durch die Zündung zweier Bomben zu vertuschen, wodurch die Leichen monatelang unter einer Decke von Erde und Schutt begraben lagen.

 

Abb. 2: Fosse Ardeatine

 

Laut dem Historiker Alessandro Portelli sind „die Ardeatinischen Höhlen europaweit das einzige Massaker, das es in einer Großstadt gegeben hat. […] In den Fosse Ardeatine verdichtet sich der gesamte Raum der Stadt und ein Jahrhundert ihrer Geschichte; sie sind der symbolische Ort, an dem alle Geschichten zusammenlaufen.“[7] Auch deshalb wurde der Ort zum Symbol des römischen Widerstands gegen den deutschen Nationalsozialismus und den italienischen Faschismus. Am 4. Juni 1944 wurde Rom von der deutschen Besatzungsherrschaft befreit. Bereits knapp einen Monat später, am 2. Juli, ergriff die italienische Regierung die Initiative, um in den Höhlen ein Mahnmal zur Erinnerung an jene Märtyrer und alle im Befreiungskampf Gefallenen zu errichten. Innerhalb von fünf Jahren, von 1945 bis 1950, wurde dort als Ergebnis zweier Wettbewerbe das erste Mahnmal der Republik Italien errichtet, ein architektonisches und künstlerisches Meisterwerk und ein neuer Ansatz in der Geschichte der Mahnmale und Gedenkstätten. Warum? In erster Linie, weil es den Ort des Massakers zu einer Stätte der Erinnerung macht und dabei die ursprüngliche Struktur des Ortes intakt lässt: ein großer Vorplatz, von dem in verschiedene Richtungen lange Tunnel abgehen. Dort mussten sich die Opfer niederknien und wurden mit einem Genickschuss getötet. Die Architekten Mario Fiorentino und Giuseppe Perugini entschieden sich, die Gedenkstätte nicht mitten auf dem Vorplatz zu errichten, wie sich das die Familienangehörigen gewünscht hätten. Vielmehr ließen sie ihn leer und umbauten ihn, seinem unregelmäßigen Umriss folgend, mit einem Rundgang, dessen einzelne Stationen sich decken sollten mit den Etappen der Geschichte, an die es zu erinnern gilt, sodass die Besucher sie nachempfinden können. Vom Platz aus, auf dem man sich etwas verloren fühlt, wird man in die Stollen geleitet. Man passiert den Ort des Martyriums und gelangt schließlich in das Mausoleum, wo unter einem riesigen, schwebenden Betonblock 335 identische Grabmäler aufgereiht und mit Namen, Alter, Beruf, Glaubenszugehörigkeit und der bei der Exhumierung der Opfer zugewiesenen Nummer versehen sind. Der Rundgang führt an der imposanten Statue des Bildhauers Francesco Coccia vorbei, die drei monumentale Figuren mit auf dem Rücken gefesselten Händen darstellt, und endet, wo er begann, an den gebogenen Klingen des expressionistischen Zauns von Mirko Basaldella.[8]

Während das Mausoleum alle Gefallenen am Ort ihres Sterbens vereinigt, bringen die Stolpersteine jeden Einzelnen in sein Viertel und an seinen Wohnort zurück und bestätigen so die „großstädtische“ Dimension des Mordens. Und nicht nur das. Während das Mausoleum der institutionell für das Gedenken bestimmte Ort ist, den man bewusst aufsucht, trifft man auf die Stolpersteine durch Zufall, unversehens, zu jeder beliebigen Tages- oder Nachtzeit. Ein gutes Beispiel dafür, wie gleichzeitig an den Fosse Ardeatine und im Stadtraum an die Ermordeten erinnert wird, ist Don Pietro Pappagallo, der vom Regisseur Roberto Rossellinis in Rom, offene Stadt verewigt wurde. Im Beisein einer großen Menschenmenge wurde für Don Pappagallo 2012 im Herzen Roms vor seiner Pfarrkirche in der Via Urbana ein Stolperstein verlegt, wo er viele Verfolgte versteckt und geschützt hatte und wo bereits eine Gedenktafel an seinen Heroismus und seinen Opfertod erinnerte. Da es keine Familienangehörigen gab, stiftete Don Francesco Pesce, der Pfarrer, der heute in derselben Pfarrei Don Pietros Stelle innehat, den Stolperstein. Anlässlich der Verlegung wurde auch Rossellinis Meisterwerk gezeigt.

 

Für alle Verfolgten und Deportierten

Demnigs Entscheidung, die Stolpersteine unterschiedslos allen, die von 1933 bis 1945 verfolgt und deportiert wurden, zu widmen, ist von großer Bedeutung. Während die Shoah in der öffentlichen Wahrnehmung in Italien lange Zeit hinter dem Kampf gegen den Faschismus und dem Widerstand zurücktrat, hat sich das Verhältnis in den letzten Jahrzehnten umgekehrt, wodurch wiederum die politische Verfolgung aus dem Blick zu geraten droht. So läuft man Gefahr, die Shoah vom historischen Kontext, der sie hervorgebracht hat, zu lösen, sie zu sakralisieren und die tatsächlichen Geschehnisse in verändertem Gewand unkenntlich zu machen. Gleichzeitig weist man die gesamte Verantwortung für die Verfolgung und Ermordung der Juden den Nationalsozialisten zu und spricht den italienischen Faschismus von der Komplizen- und Mittäterschaft frei. Wie  die Initiatoren der Stolpersteine jedoch ständig beklagen, sind die Italiener von Anfang an treue und eifrige Unterstützer der deutschen Besatzer gewesen. Für die Verlegung von Stolpersteinen für die 30 000 Italiener, die aus politischen Gründen deportiert wurden, setzen sich vor allem die Vereinigungen der ehemaligen Partisanen und Deportierten ein.

In über 80 Zügen wurden die Deportierten in Durchgangslager wie Fossoli und Bozen gebracht und von dort in die Lager in Deutschland, vor allem nach Dachau und Mauthausen, mit den Außenlagern Gusen, Melk, Ebensee und Hartheim, nach Buchenwald, Ravensbrück und Flossenbürg. Nur zehn Prozent der Deportierten kehrten nach Hause zurück. Fossoli, das 1942 als Kriegsgefangenenlager in der Provinz Modena eröffnet worden war, wurde nach dem 8. September 1943 von den Deutschen übernommen und von Februar bis Juni 1944 als Durchgangslager für Juden und politische Häftlinge genutzt. „Als ein regelrechtes ‚Vorzimmer des Todes’“[9] fand dort „die erste Entmenschlichung des Internierten, der nach Deutschland ins Lager kommen soll“, statt, wo er auf eine Nummer reduziert wurde. Neun Transporte mit Juden und politischen Gefangenen gingen von hier aus in die Vernichtungslager ab. Als die Alliierten nach Norden vorrückten, wurde das Lager aufgegeben und nach Bozen verlegt, wo es bis April 1945 unmittelbar den Deutschen unterstand.

Der Südosten Roms, in dem vorwiegend Arbeiter lebten, hatte für die deutschen Besatzer besondere strategische Bedeutung, zum einen wegen der Bahnlinie Rom-Cassino und der wichtigen Straßenverbindung der Via Casilina, zum anderen wegen der starken Konzentration antifaschistischer Gruppierungen. Auf den Stolpersteinen für Paolo Angelini und Carlo Camisotti in Tor Pignattara, einem der rebellischsten Arbeiterviertel Roms, ist eigens vermerkt „verhaftet aus politischen Gründen“, um sie von den aus rassistischen und militärischen Gründen Deportierten zu unterscheiden.

Unter den 292 von der RSI zu „Unerwünschten Elementen“ erklärten italienischen politischen Gefangenen, die mit dem ersten Transport von der Haftanstalt Regina Coeli am 4. Januar 1944 nach Mauthausen deportiert wurden, befand sich Fausto Iannotti, der am 22. Oktober 1943 am Sturm auf die Kaserne Forte Tiburtina im römischen Stadtteil Pietralata beteiligt gewesen war. Nach einem Schnellverfahren wurde der Sechzehnjährige deportiert, bevor er zwei Jahre später in Ebensee starb. Seit 2012 erinnert an ihn ein Stolperstein in seinem Stadtviertel. Nur 61 der damals Deportierten kehrten wieder zurück. Von der großen Razzia in Quadraro am südlichen Stadtrand, das am 17. April 1944 auf Befehl Kapplers umstellt wurde, zeugt der Stolperstein, der 2017 Eldio Del Vecchio gewidmet wurde. Er wurde zu Hause verhaftet, in Fossoli interniert und starb in Buchenwald, mit erst siebzehn Jahren.

 

Polizeischutz für eine Überlebende

In Mailand wurden erst seit 2017 Stolpersteine verlegt, dann aber innerhalb von drei Jahren 61 Stück. Davon ist etwa jeweils die Hälfte jüdischen und politischen Deportierten gewidmet. Das Komitee der Unterstützer umfasst die Vereinigungen der ehemaligen Partisanen und Deportierten, die Jüdische Gemeinde, das Dokumentationszentrum jüdischer Zeitgeschichte, die Stiftung Memoriale della Shoah, das Nationalen Institut Ferruccio Parri, das sich der Erforschung und Vermittlung der Geschichte der Widerstandsbewegung widmet, und das Bündnis der drei größten italienischen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL. Dem Komitee steht Liliana Segre vor, die, als Überlebende und unermüdliche Zeitzeugin, 2018 vom Staatspräsidenten Sergio Mattarella zur Senatorin auf Lebenszeit ernannt wurde. Der erste Stolperstein war dem Gedenken an ihren Vater Alberto Segre gewidmet, der mit ihr am 10. Dezember 1943 vergeblich in die Schweiz zu fliehen versucht hatte. Am 11. Dezember waren sie festgenommen, in Varese, Como und Mailand inhaftiert und am 30. Januar 1944 deportiert worden. Sieben Tage später erreichten sie das Lager Auschwitz-Birkenau, wo sie sofort voneinander getrennt wurden. Der Vater wurde am 27. April 1944 ermordet, die Tochter als Zwangsarbeiterin in einer Munitionsfabrik beschäftigt. Sie überlebte den Todesmarsch in Richtung Deutschland und wurde am 1. Mai 1945 befreit. Liliana Segre gehört zu den 25 Überlebenden der über 750 italienischen Kinder, die in Auschwitz interniert waren. Vor ihrem früheren Haus in der Via Magenta 55 erinnern seit 2019 noch zwei weitere Stolpersteine an ihre Großeltern Giuseppe und Olga, die später ebenfalls festgenommen und gleich nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet wurden.

Infolge Hunderter von Drohungen und Beschimpfungen in sozialen Medien schlug Liliana Segre in ihrer Eigenschaft als Senatorin auf Lebenszeit die Einsetzung einer Parlamentskommission zur Bekämpfung der Phänomene Intoleranz und Rassismus, Antisemitismus und Anstiftung zu Hass und Gewalt vor. Am 30. Oktober 2019 stimmte der Senat für den Antrag, wobei sich Lega, Forza Italia und Fratelli d’Italia, also alle italienischen Mitte-Rechts-Parteien, bedenklicherweise ihrer Stimme enthielten. Wenngleich die Einsetzung der Kommission, der Wettstreit zwischen den italienischen Gemeinden, die Liliana Segre die Ehrenbürgerschaft verleihen wollen, und die zahlreichen Solidaritätsbekundungen von einem gefestigten, starken demokratischen Bewusstsein zeugen, so ist es doch ein echter Skandal, dass eine 90-jährige Auschwitz-Überlebende Personenschutz braucht, um sich gegen antisemitische Drohungen zu schützen.

Als sich die mehrheitlich von der Lega regierte Gemeinde Schio in Venetien am 26. November 2019 gegen den Vorschlag aussprach, Stolpersteine zum Gedenken an 14 Partisanen zu verlegen, begründete sie dies damit, dass der Vorschlag kontrovers diskutiert und Hass verbreiten werde. Im Gegenzug schlug die Gemeinde vor, auch den Opfern der Foibe-Massaker, bei denen jugoslawische Partisanen in den letzten Kriegsjahren und nach Kriegsende italienische Zivilisten ermordet hatten, Stolpersteine zu widmen.[10] In dieselbe Kategorie gehört der Vorfall in Verona, wo eine von einem Mitte-Rechts-Bündnis regierte Gemeinde, nachdem sie Liliana Segre gerade die Ehrenbürgerschaft verliehen hatte, eine Straße nach Giorgio Almirante, dem einstigen Anhänger der RSI, Unterzeichner des „Rassenmanifests“ von 1938 und Gründer der faschistischen Nachfolgepartei Movimento Sociale Italiano, benennen wollte. Beide Vorfälle zeugen von denselben folgenschweren revisionistischen Bestrebungen, die Opfer und Täter, Faschisten und entschiedene Widerstandskämpfer miteinander gleichsetzen. „Er oder ich“, forderte Segre deshalb unverrückbar und ganz zu Recht.

Analog zum Mahnmal der Fosse Ardeatine sind die Namen vieler Mailänder Deportierter, an die individuell an ihren jeweiligen Wohnorten mit Stolpersteinen erinnert wird, seit 2013 im Memoriale der Shoah an Gleis 21 des Hauptbahnhofs aufgeführt.[11] Auf einer langen, das Gleis säumenden Betonwand sind 774 Namen der Deportierten aus den Transporten vom 6. Dezember 1943 und 30. Januar 1944 verzeichnet. Von demselben Gleis gingen zwischen Dezember 1943 und Januar 1945 noch weitere 13 Transporte ab. Das Mahnmal, entworfen von dem Architekturbüro Morpurgo de Curtis Architetti Associati, befindet sich auf der Ebene unterhalb der in Betrieb befindlichen Gleisanlagen, wo bis in die 1970er-Jahre Post sortiert und die 2004 der Stiftung Memoriale della Shoah überlassen wurde. Hier kamen die Häftlinge auf Lastwagen aus dem Gefängnis San Vittore an und wurden in plombierte Waggons verladen. Durch einen großen Tunnel wurden sie zu einem Aufzug und mit diesem auf ein reguläres Gleis im oberen Geschoss gebracht, wo ihre Fahrt in den Tod begann. Dieses niederträchtige Verfahren ermöglichte es, auf einen Schlag Hunderte von Menschen ungesehen verschwinden zu lassen. Die Gedenkstätte lässt im Wesentlichen den Ort für sich sprechen: große Räume, das nackte Tragwerk, die unheilkündende Gegenwart von Zügen, Transportanlagen und Aufzügen. Gegenüber dem Eingang befindet sich eine lange Eisenwand mit dem eingravierten Wort „Gleichgültigkeit“ („Indifferenza“), das Liliana Segre ausgewählt hat.

 

Intellektuelle in der Resistenza

1946 gründete sich das Architekturbüro BBPR unter demselben Kürzel, in dem Banfis Initiale weiter auftaucht, neu und plante das Mahnmal für die Ermordeten in den nationalsozialistischen Lagern auf dem Zentralfriedhof von Mailand. Es war das Erste von vielen Mahnmalen, die sie in der Folgezeit planten: in Gusen, in Ravensbrück, im Castello dei Pio in Carpi, wo an das Lager Fossoli erinnert wird, aber vor allem 1980 den italienischen Pavillon in Auschwitz, ein multimediales Werk mit Musik von Luigi Nono und Texten von Primo Levi, das heute in Florenz zu sehen ist.

 

Im übrigen Italien

Nach der Befreiung Roms im Juni 1944 und dem alliierten Vorstoß bis Florenz wurde das Gebiet zwischen den deutschen Verteidigungsstellungen an der „Gotenlinie“, die die Apenninhalbinsel von der Toskana bis zur Adria durchschnitt, und den Alpen zum Operationsgebiet der italienischen Partisanen. Ihre Einheiten, in denen über 300 000 Männer und Frauen kämpften, lieferten den deutschen Besatzern und den Truppen der RSI einen Guerillakrieg, der weitgehend ohne Unterstützung von außen auskommen musste. Die immer brutaleren Repressalien der Deutschen und ihrer italienischen Verbündeten richteten sich nicht nur gegen gefangen genommene Widerstandskämpfer, sondern auch gegen die italienische Zivilbevölkerung. An die Verfolgten des NS-Regimes und seiner italienischen Marionettenregierung unter Mussolini erinnern neben Gedenkstätten wie in Sant’Anna di Stazzema (Toskana)  und Marzabotto (Emilia-Romagna) zahlreiche Stolpersteine.

Beispielsweise wurden in Prato, einer Industriestadt vor den Toren von Florenz, auf Initiative der Stadtverwaltung, der Nationalen Vereinigung der Deportierten (ANED), der Jüdischen Gemeinde Florenz und des Museums der Deportation und des Widerstands in Prato 40 Stolpersteine zum Gedenken an Textilarbeiter verlegt, die im Zuge des großen Generalstreiks vom 7. und 8. März 1944 verhaftet und zusammen mit annähernd 560 anderen Deportierten vom Bahnhof Santa Maria Novella in Florenz nach Mauthausen transportiert wurden, wo sie drei Tage später eintrafen. Die Stolpersteine finden sich an neun Stellen in der Stadt, vor allem vor den Fabriken Lucchesi und Compolmi, wo viele der Deportierten arbeiteten und in denen heute eine Bibliothek und ein Textilmuseum untergebracht sind.

In Venedig, wo das Gedenkprojekt 2014 startete, gibt es neben individuellen Stolpersteinen vor einzelnen Wohnungen (für die Juden vorwiegend in Cannaregio, wo 1516 das erste Ghetto Italiens eingerichtet worden war) auch drei kollektive: im Bürgerkrankenhaus, vor dem Jüdischen Altenheim am Campo del Ghetto Nuovo und vor der psychiatrischen Klinik auf der Insel San Servolo.

Seit 2012 erinnert in Genua am Eingang der Einkaufspassage der Galleria Giuseppe Mazzini ein Stolperstein an Oberrabbiner Reuven Pacifici, der am 3. November 1943 verhaftet, deportiert und in Auschwitz ermordet wurde. Bei derselben Razzia wurden 50 andere Juden nach einem Täuschungsmanöver vor der Synagoge verhaftet, während weitere 200 in den Tagen darauf festgenommen wurden. Auf dem Stolperstein für Giorgio Labò in der Via Roma steht geschrieben: „Giorgio Labò / geboren 1919 / gefallen für die Freiheit / erschossen in Rom von den Nazis / 7. März 1944 / Goldene Medaille für Tapferkeit“. Der Architekturstudent trat nach dem Waffenstillstand unter dem Kampfnamen Lamberto in den Widerstand ein, wurde verraten und am 1. Februar 1944 von deutschen SS-Männern in einem Haus festgenommen, wo er Waffen für eine Widerstandsgruppe zusammenbaute. Auch unter Folter verriet er seine Gefährten nicht. Beim Transport zu seinem Hinrichtungsort in der römischen Festung Bravetta konnte er seinem Lehrer, dem großen Kunsthistoriker Giulio Carlo Argan, eine Nachricht zukommen lassen. Unmittelbar nachdem dieser 1976 Bürgermeister von Rom geworden war, führte er die erste Veranstaltung zum Gedenken an die Razzia vom 16. Oktober durch, auf der der römische Architekturhistoriker Bruno Zevi an die Verbindung von Giorgio Labò und Argan erinnerte.[12]

2015 schließlich hat sich Turin dem Stolperstein-Projekt angeschlossen, mit 108 Stolpersteinen zum Gedenken an jüdische und politische Deportierte, an Militärinternierte und den Fußballer Vittorio Staccione, der im März 1944 bei Fiat verhaftet wurde. Zu den Initiatoren der Steine gehörte das 2003 eröffnete Dezentrale Museum  des Widerstands, der Deportationen, des Krieges, der Rechte und der Freiheit.[13] Dieses Museum hat mit dem Stolpersteinprojekt gemein, dass es sich den Konzepten des zentralen und uniformen Gedenkens verweigert und statt des monolithischen Museums oder Gedenkorts eine Aufteilung des Gedenkens auf viele Orte eines größeren Gebiets favorisiert. Daher hat das Museum ein „Informationszentrum“ an der Porta Susina in Turin und erstreckt sich von dort mit gut 20 Erinnerungsorten über die ganze Stadt: Dazu zählen historische Stätten, Museen, aber auch Wege durch die Stadt wie die sogenannten Partisanenpfade.

Jeder der beschriebenen Stolpersteine steht für einen Teil der dramatischen Geschichte Italiens während des Faschismus. Mit den Steinen gewinnt die Geschichte Sichtbarkeit und Kontur und wird in die Gegenwart projiziert. „Erinnerung aus nächster Nähe“[14] zu bieten ist, neben ihrer Verbreitung und ihrer Allgegenwart, einer der besonderen Vorzüge der Stolpersteine. Anders als ein an einem historisch denkwürdigen Ort errichtetes Mahnmal dehnen sie sich horizontal in Raum und Zeit aus, wobei sie wie Mosaiksteinchen oder die Einzelteile eines Puzzles in einem kontinuierlichen Prozess eine immer dichter werdende Karte europäischer Gedenkorte entstehen lassen. Die Steine befinden sich in historischen Zentren, in ruhigen Wohnvierteln, belebten Stadtquartieren und Vororten. Jedes Viertel hat „sein“ Denkmal für „seine“ Gefallenen, aber in derselben Form, Dimension und vom selben Wert wie alle anderen.

Ein weiteres Beispiel für ein Kunstprojekt der dezentralen Erinnerung sind die zeitgleich entstandenen Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel in Berlin. Während ihre 80 beidseitig bedruckten Tafeln die von den Tätern erlassenen „Rassengesetze“ veranschaulichen, erinnern die über das ganze Viertel verteilten Stolpersteine an die Opfer eben dieser Gesetze.

 

Ein Gegen-Monument

Was ist das Besondere der Stolpersteine?

– Zunächst die Diskretion: In den Boden eingelassen, ragen sie anders als Denkmäler nicht empor und beanspruchen keinen Raum. Sie werden eins mit dem Straßenbelag, sind daher eine „Erinnerung, die unter den Sohlen brennt“.[15] Unsichtbar, wenn man nicht darüber stolpert, werden sie, sobald sie verlegt sind, zum Bestandteil einer Stadt, einer Gegend, ihrer Ortsnamen. Das macht sie so verstörend.

– Das Unabgeschlossene: Die Anzahl der jedes Jahr zu verlegenden Steine steht nicht fest; tatsächlich entscheiden darüber die Familienangehörigen, Anwohner oder andere Initiatoren, ohne dass wir die Hintergründe kennen. Dass ihre Zahl stetig anwächst, ist der greifbare Beweis für die Unmöglichkeit, die Shoah in ihrer Gesamtheit darzustellen.

– Die Verbindung von Konzeptkunst und künstlerischer Handschrift. „Alles, was ich bis heute gemacht habe, gehört zur Konzeptkunst“,[16] so formulierte es Gunter Demnig 2013. Die Stolpersteine knüpfen daran an, dass mit der Shoah nicht nur sechs Millionen Leben, sondern auch sechs Millionen Namen ausgelöscht wurden.[17]

Da sie dem trockenen und unpersönlichen, weder bildlichen noch farbigen Mittel der Schrift anvertraut sind, kann man sie der Kategorie der Denkmäler zuordnen, die vor allem Namen präsentieren, wie der Wand mit den Namen am Eingang der Shoah-Gedenkstätte in Paris, dem Maison manquante von Christian Boltanski in Berlin oder Maya Lins Denkmal von 1982 für die 57 000 zwischen 1959 und 1975 Gefallenen des Vietnamkriegs in Washington.

– Die Stolpersteine sind alle gleich, aber handgemacht, nicht seriengefertigt. Demnig hat die meisten der bislang ungefähr 80 000 Steine persönlich verlegt: Kniend bekundet er seinen Respekt für die einzelnen Opfer und erneuert mit jedem Stein deren Zeugnis. Allerdings besteht die Gefahr, dass Steine im „Do it yourself“-Verfahren hergestellt werden.

– Der Ort. „Meine Lieben, wenigstens ihre Namen kehren nach Hause zurück, sie sind nicht mehr verweht im Wind, und nicht nur der Stein auf dem Friedhof von Ferrara wird an sie erinnern. Hier, über diesen Gehweg geht das Leben hinweg, und ihre Namen werden daran teilhaben.“[18] Mit diesen Worten brachte Alberta Levi Temin, während Demnig drei Stolpersteine für ihre Verwandten verlegte, zum Ausdruck, welchen Sinn es hat, die Stolpersteine vor der Haustür zu platzieren, auf dem schmalen Grat zwischen einem normalen Leben voller Zuneigung und dem Abgrund eines ungewissen Schicksals. Haus und Straße werden so unversehens zu Orten der Erinnerung, die nicht aus unserem Alltagsleben herausgerissen, sondern fester Bestandteil davon sind. David Hanauer erläutert: „Die Stolpersteine werden Teil der ständig in einer Straße anwesenden Sprachlandschaft und fungieren als ein dauerhaftes Gedächtnis dessen, was dort vorgefallen ist“.[19] Sie können aus meiner Sicht auch mit einem Grab verglichen werden – tatsächlich gräbt man Erde aus, um die Steine zu setzen –, auf dem die Lebensdaten des Deportierten verzeichnet sind, und die Zeremonie bei der Verlegung erscheint mir wie eine symbolische Beerdigungsfeier.

– Ein Denkmal „von unten“. Das Projekt hat in Italien Gestalt angenommen, als nach vergeblichen Anläufen bei „zentralen Stellen“ die Verwaltungschefs der Stadtverwaltungen, in denen Steine verlegt werden sollten, eingebunden wurden. Die Zustimmung war begeistert und einhellig und hat ein institutionelles Netz von unten geschaffen, das Jahr für Jahr neue Stadtgemeinden, Bürger, Schulen und Schüler umfasst.

– Antihierarchisch: Alle verschieden, aber alle gleich, so veranschaulichen die Stolpersteine das geteilte gemeinsame Schicksal, aber auch, welche Vielfalt dieses Schicksal vernichtet hat.

– Gegen Gleichgültigkeit, Revisionismus und Verleugnung. „Das ist kein Denkmal für die Vergangenheit, sondern eine Mahnung für die Zukunft“, erläutert Demnig sein Projekt.[20] Wer immer über den Glanz dieser Steine stolpert, kann nicht mehr so tun, als wäre da nichts. Möglich sind drei Reaktionen: Anteilnahme, Gleichgültigkeit, Profanierung. Die Stolpersteine zeigen, wie sehr eine Stadt sich der eigenen Geschichte bewusst und in der Lage ist, sich das eigene Gedächtnis zu bewahren. Die eingravierten Texte, die auf den Zeugnissen von Familienangehörigen beruhen und in Gedenkbüchern, Stadtarchiven und Archiven der jüdischen Gemeinden sowie in den deutschen archivalischen Überlieferungen zu den verschiedenen Durchgangs-, Konzentrations- und Vernichtungslagern verifiziert wurden, lassen keinen Raum für Zweifel, Revisionismus oder die Leugnung des Holocaust. Wer die Installation verbietet, der will nicht, dass diese Geschichte eine geteilte nationale Geschichte und Erinnerung wird.

Man könnte einwenden: Weshalb so viel Enthusiasmus für die Stolpersteine, wo es doch weitaus radikalere, sogar unsichtbare Denkmäler gibt? Das Thema der Unsichtbarkeit des Denkmals als greifbaren Beweis für die Unmöglichkeit, das Grauen der Vernichtung darzustellen, beschäftigt Künstler, Kunsthistoriker, aber auch Schriftsteller, Philosophen und Psychoanalytiker schon seit Jahren. Unter Letztgenannten hat sich der Franzose Gérard Wajcman mit seinem grundlegenden Text L’objet du siècle hervorgetan. Welches ist, so fragt er sich, das Objekt eines Jahrhunderts, das „die Zerstörung ohne Trümmer erfunden hat“?[21] Die Antwort lautet, die Abwesenheit, jenes Unsichtbare, welches der „absolute Kern dieses modernen Jahrhunderts“[22] ist und in eins fällt mit dem Abgrund der Shoah. Wie soll man die Abwesenheit sichtbar machen, wie eine Verneinung bejahen? Einzig Kunst vermag es, „sichtbar zu machen, was sich weder in Worten noch in Bildern darstellen lässt“.[23] Einer Genealogie folgend, die ihren Ausgang von Duchamp und Malewitsch nimmt, gelangt Wajcman in unseren Tagen zu Claude Lanzmann und dessen Film Shoah und zu Jochen Gerz‘ Mahnmal, für das der amerikanische Historiker James E. Young den Begriff „Gegen-Monument“[24] geprägt hat.

Mehrere Mahnmale haben diese Idee aufgenommen. Dazu zählen das Mahnmal gegen Faschismus, Krieg, Gewalt – für Frieden und Menschenrechte von Jochen Gerz und Esther Shalev aus dem Jahr 1986 in Harburg. Es besteht aus einem mit Blei ummantelten Pfeiler, der mitsamt den darauf hinterlassenen Unterschriften und Einritzungen von Passanten nach sieben Jahren ins Erdreich versenkt wurde. „Das Denkmal von Gerz […] macht die Menschen zu Trägern der Erinnerung und jeden einzelnen zum Denkmal.“[25] Indem es verschwindet, wird der Betrachter zum Zeugen. Ein anderes Mahnmal von Jochen Gerz findet sich in Saarbrücken auf dem Schlossplatz, an dem ehemals das Hauptquartier der Gestapo lag. Dort wurden 2146 der 8000 Pflastersteine ausgegraben, an der Unterseite ebenso viele Ortsnamen der im Jahr 1939 in Deutschland bestehenden jüdischen Friedhöfe eingemeißelt und danach wieder eingegraben, sodass die Beschriftung unsichtbar ist.

Auch Horst Hoheisels Negativ-Form in Kassel, dem Wiederaufbau und der Versenkung im Erdreich des Aschrottbrunnens, der 1908 von Sigmund Aschrott der Stadt gestiftet und 1939 von Nationalsozialisten zerstört worden war, kann zu den Gegen-Monumenten gezählt werden. Gleiches gilt für die Bibliothek. Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung vom 1. Mai 1933, die vom israelischen Künstler Micha Ullman auf dem Berliner Bebelplatz, auf dem 1933 die Bücherverbrennung stattfand, realisiert wurde. Das in den Platz eingelassene Denkmal ist mit leeren Bücherregalen ausgekleidet, die Platz bieten für die 20 000 von den Nationalsozialisten zerstörten Bücher.

Im Unterschied jedoch zu diesen „Mahnmalen des Verschwindens“ verlangen die Stolpersteine einen Ort der Erinnerung, und sei er auch so klein wie ein Pflasterstein. Gerade deshalb haben sie Schule gemacht, wie folgende Beispiele belegen: Zur Erinnerung an den bedeutenden Physiker und Astronomen François Arago, der von 1786 bis 1853 lebte, hat der holländische Künstler Jan Dibbets 1995 in Paris 135 Bronzemedaillons im Durchmesser von 12 Zentimetern mit dem Namen Aragos verlegt. Sie liegen auf der Linie des Nullmeridians und erstrecken sich vom Sockel des während der nationalsozialistischen Besatzung eingeschmolzenen Originaldenkmals im Stadtteil Montparnasse durch sechs Arrondissements nach Norden und Süden.

Die Stolpersteine des israelischen Künstlers Ariel Schlesinger beziehen sich direkt auf Demnigs Kunstprojekt: Sie haben dasselbe Maß, dieselbe Form und bestehen aus demselben Material, liegen aber unregelmäßig auf dem Boden, sind nicht in ihn eingelassen und können, da sie nicht an einem bestimmten Ort verankert sind, immer wieder neu angeordnet werden. Vor allem sind sie durch keine Aufschrift personalisiert; sie sind kein Mahnmal, sondern bloße minimalistische Objekte.

Weitere Stolperstein-Adaptionen finden sich auch außerhalb Europas, etwa in Buenos Aires, wo sie an die Desaparecidos, und in Seoul, wo sie an die von den japanischen Truppen ausgebeuteten „Trostfrauen“ erinnern sollen.[26]

Demnigs Projekt, das 1993 initiiert wurde, wird bald dreißig Jahre alt. Es lebt von der Persönlichkeit des Künstlers: wegen seines Charismas, wegen seiner Respektsbezeugung den Familien gegenüber und wegen der persönlichen Handschrift, die er seinem Konzeptkunstprojekt als Urheber verleiht.

 

Perspektiven

Welche Perspektiven hat das Projekt in Italien? In Italien weht ein scharfer politischer Wind. Angesichts einer Rechten, die durch eine rassistische, populistische, die Angst vor dem Fremden befeuernde Politik immer mehr Zuspruch erhält, ist die von Spaltungen und Streitigkeiten zerrissene Linke außerstande, strategisch und mit einem schlüssigen Programm zu reagieren. Die neue Bewegung der „Sardinen“, die sich mit großen Kundgebungen den Parolen der Populisten entgegenstellt und die Einhaltung der Rechte und eine politische Konfrontation ohne Hass und Aggressivität fordert, stimmt uns erwartungsfroh und hoffnungsvoll. Nach den gravierenden Vorfällen, die Liliana Segre widerfahren sind, und nachdem unmittelbar vor dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus die Haustür einer deportierten nichtjüdischen Partisanin aus Mondovì mit einem Davidstern und der deutschen Aufschrift „Juden Hier“ gekennzeichnet wurde, können wir nicht ständig das Mantra „Erinnern, damit es nie wieder geschieht“ wiederholen. Aus den erwähnten Gründen bin ich überzeugt davon, dass die Stolpersteine ein äußerst wirkungsvolles Mittel der Kommunikation und Partizipation sind. Wir müssen es in Abstimmung mit den Wünschen der Familien ausweiten, ein aktives Engagement der staatlichen Institutionen bei der Erhaltung und Pflege der vorhandenen Stolpersteine einfordern, die historische Bildung der Schüler, die an dem didaktischen Projekt der Stolpersteine teilnehmen, fördern und daran erinnern, dass die Stolpersteine in erster Linie ein Kunstwerk über das Gedenken sind und als solches geschützt werden müssen.

Übrigens wurden am 20. Dezember 2019 vor einer Schule in den Außenbezirken Roms, die als eine der multi-ethnischsten und inklusivsten der Hauptstadt gilt, fünf Stolpersteine verlegt, um an den 14-jährigen Jungen aus Mali zu erinnern, der am 18. April 2018 im Mittelmeer ertrank. Eine fragwürdige Entscheidung, die dem Sinn und Zweck von Demnigs Projekt unangemessen und fremd ist. Nicht nur, weil hier ein Kunstprojekt ohne Erlaubnis des Urhebers unbeholfen kopiert worden ist, sondern vor allem wegen der Gefahr, dass die formale Ähnlichkeit und die Anbringung der Steine in großer Nähe zu denen, die man im selben Viertel den Deportierten gewidmet hat, Anlass bieten könnten, sehr unterschiedliche Situationen gleichzusetzen und den Stolperstein zum Symbol für schlechthin jede Tragödie zu machen, die unsere Welt heimsucht.

 

Aus dem Italienischen von Martina Kempter

 

[1] http://www.arteinmemoria.it/ (abgerufen am 10.6.2020).

[2] https://www.museodellashoah.it/ (abgerufen am 10.6.2020).

[3] http://www.arteinmemoria.it/memoriedinciampo/instal/gcesare3.htm (abgerufen am 10.6.2020).

[4] Anna Maria Casavola, 7 ottobre 1943. La deportazione dei carabinieri romani nei Lager nazisti, Rom 2008.

[5] Ebenda, S. 60–62; Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943–1945. Verraten – verachtet – vergessen, München 1990.

[6] Régine Robin, I fantasmi della storia. Il passato europeo e le trappole della memoria, Verona 2005, S. 92.

[7] Alessandro Portelli, L’ordine è già stato eseguito. Roma, le Fosse Ardeatine, la memoria, Rom 2005, S. 17f.

[8] Adachiara Zevi, Le Fosse Ardeatine, Turin 2000.

[9] Bruno Maida, „La deportazione politica”, in: Bruno Maida/Brunello Mantelli (Hrsg.), Otto lezioni sulla deportazione. Dall’Italia ai Lager, Quaderni della „Fondazione Memoria della deportazione”, Nr. 1, Mailand, Dezember 2007, S. 105.

[10] Die Massaker, die sich vor allem gegen italienische Zivilisten, aber auch gegen gefangene Soldaten der Wehrmacht und der RSI richteten, sind nach den Karsthöhlen (foibe) benannt, in die Ermordeten geworfen wurden; sie erstreckten sich von Triest über Istrien bis zur dalmatinischen Küste.

[11] https://www.memorialeshoah.it (abgerufen am 10.6.2020).

[12] Bruno Zevi, Ebraismo e architettura, Florenz 2018, S. 49.

[13] https://www.museodiffusotorino.it/home (abgerufen am 10.6.2020).

[14] Robin, I fantasmi della storia, S. 97.

[15] Ebenda, S. 52.

[16] Gunter Demnig in: Joachim Rönneper, In Front of My Door. The „Stumbling Stones” of Gunter Demnig, Bonn 2013, S . 11.

[17] Gérard Wajcman, „Un monumento invisibile” in: Cristina Baldacci/Clarissa Ricci (Hrsg.), Quando è scultura, Mailand 2010, S. 53.

[18] Alberta Levi Temin im Gespräch mit Adachiara Zevi während der Stolpersteinverlegung in Rom am 28. 1. 2010.

[19] David Hanauer, „The Discursive Construction of the Stolpersteine Memorial Project”, in: David M. Seymour/Mercedes Camino (Hrsg.), The Holocaust in the Twenty-First Century. Contesting/Contested Memories, New York 2016, S. 27.

[20] Demnig in: Rönneper, In Front of My Door, S. 11.

[21] Gérard Wajcman, L’objet du siècle, Lagrasse 1998, S. 21.

[22] Ebenda, S. 239.

[23] Ebenda, S. 23.

[24] James E. Young, The Texture of Memory. Holocaust, Memorials and Meaning, London 1993, S. 27.

[25] Wajcman, „Un monumento invisibile”, S. 47.

[26] Hans Hesse, Stolpersteine. Idee, Künstler, Geschichte, Wirkung, Essen 2017, S. 233 f.